In Nordamerika entwickelte sich vor etwa 45 Mio. Jahren ein Säugetier aus der Ordnung der Paarhufer (Artiodactyla), welches kaum größer als ein Hase war. Mit ihm waren die "Kamelartigen" (Camelidae) geboren, von denen sowohl die höckrigen Kamele Nordafrikas und Asiens als auch Südamerikas Kleinkamele in den vier Formen des Guanaco, Vicuña, Alpaca und Lama abstammen. Sie alle zählen zur Unterordnung der Schwielensohler (Tylopada), die auf zwei Lederballen gehen und damit sogar in extremen Hanglagen kaum Trittschäden hinterlassen und selbst kaum Pflege brauchen. Durch ihre markante Hasenscharte (gespaltete Oberlippe) rupfen sie die Gräser und Kräuter nicht heraus, sondern beißen sie ab und verletzen so kaum die Grasnarbe im ohnehin schon spärlich bewachsenen Hochgebirge.
Als vor ca. drei Mio. Jahren erste Kamelartige über die neu entstandene Landbrücke zwischen Alaska und Sibirien nach Asien gelangten, aus dem dort über die Zeit das einhöckrige Dromedar und das zweihöckrige Trampeltier entstand, wanderte kurz darauf eine weitere Gruppe über einen schmalen Korridor nach Südamerika. Während die frühen indianischen Hochkulturen Südamerikas vor mehr als 5.000 Jahren die ersten Tiere domestizierten, waren die Kamela Nordamerikas (aus der Gattung Camelops) durch jagende Indianer bereits ebenso lange ausgerottet.

Eines der vier "Neuweltkamele" ist das langhalsige Guanaco, das sich heute fast allen südamerikanischen Klimazonen angepasst hat. Man begegnet ihm am Äquator Equadors ebenso, wie an den Küsten Feuerlands. Es stellt trotz jahrhundertelanger Wilderei und drohender Ausrottung heute das am weitesten verbreitete Lama dar, auch wenn die aus dem wilden Guanaco domestizierten Arten Lama (Lama glama) und Alpaca (Lama pacos) zahlenmäßig weit überlegen sind. Im Süden Patagoniens begegnet man ihnen am häufigsten, und nun nicht mehr nur in den Nationalparks wie dem Torres del Paine. Wachsam und neugierig gibt sich das Guanaco ausgelassen Staubbädern hin. Gab es zu Zeiten der Spanier noch dutzende Millionen Exemplare, wird die Zahl heute auf reichlich 600.000 Tiere geschätzt.

Das Fell ist kastanienrot und an der Bauchseite weiß; das Gesicht ist angeschwärzt. Weibchen und Männchen sind äußerlich kaum zu unterscheiden. Trotz 80 bis 120 kg und einer Schulterhöhe von 90 bis 125 cm (vergleichbar mit dem europäischen Rothirsch) sind sie gute Schwimmer und erreichen an Land eine Höchstgeschwindigkeit von gut 60 km/ h. Selbst eine halbe Stunde nach der Geburt kann ein Fohlen bereits einem Menschen davonlaufen.

Abhängig von Nahrungsangebot und Jahreszeit wandern Guanacos wie Nomaden zu den besten Weideplätzen und sind so am Strand ebenso anzutreffen wie auf 4.000 m Höhe. Meist leben sie gesellig in Gruppen von zwölf bis 20 Tieren. Nach der Paarungszeit gebärt ein Weibchen ein Junges pro Jahr. Der Leithengst, der Relincho, vertreibt nach ca. 15 Monaten halbwüchsige Nahrungs- und Weibchenkonkurrenten, die sich wiederum anfangs mit Gleichaltrigen zusammenschließen und irgendwann ein eigenes ca. 30 Hektar großes Revier suchen und verteidigen werden.

Guanaco
Guanaco (Lama guanicoe)